Sport macht Spaß und ist gesund. Eigentlich. Denn manche Sportler kriegen die Kurve nicht und rennen, radeln, skaten stundenlang bis zur totalen Erschöpfung. Warum tun sie das?
Sportsucht: Gewichte stemmen und rennen ohne Limit ©PhotoDisc, aboutpixel.de
Ärzte, Ernährungsexperten, Fitnesstrainer und Coaches predigen es seit langem: Regelmäßige Bewegung hält den Körper auf Trab und ist der beste Schutz vor Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und erhöhte Blutfette. "Zwei- bis dreimal pro Woche für 30 bis 60 Minuten Ausdauersport, das ist empfehlenswert", sagt Dr. Robert Gugutzer vom Lehrstuhl für Sportpsychologie der TU München. Doch manche Sportler verlieren nach und nach jegliches Gespür für das Maß an Bewegung, das für den Körper gut ist und nicht schadet. Schon vor dem Frühstück 20 Kilometer durch den Park joggen, Gewichte stemmen in der Mittagspause und abends die Skating-Tour mit Freunden - wenn die überhaupt noch mithalten können. "Freizeitsportler, die mehr als eine Stunde täglich trainieren, müssen aufmerksam in ihren Körper hineinhören", sagt Gugutzer. "Schmerzen, die auf Überlastungen und Verschleißerscheinungen hindeuten, müssen ernst genommen werden", rät der Sportwissenschaftler.
Droge Sport?
Auch wenn es die Sportsucht als eigenständige Diagnose (noch) nicht gibt, Mediziner definieren sie so: Ein suchtartiges Verlangen nach sportlicher Betätigung ohne Wettkampfambitionen. Dies äußert sich in unkontrolliertem, exzessivem Trainingsverhalten und führt zu körperlichen und seelischen Beschwerden.
Wie kann Sport süchtig machen? Drogen sind hier nicht im Spiel, es sei denn, der Sportler dopt. Lange glaubten Fachleute, körpereigene Glückshormone (Endorphine) seien verantwortlich. Unter Extrembelastungen schüttet der Organismus körpereigene Drogen aus, um Schmerzen zu kontrollieren und Extrembelastungen auszuhalten. US-Wissenschaftler der Universität Richmond fanden zwar, dass sich die Konzentration des körpereigenen Beta-Endorphins nach 45 Minuten Aerobic erhöhte, aber keinen Zusammenhang zwischen der Menge des Endorphins im Blut und einer Abhängigkeit von ständiger körperlicher Bewegung.
Der Sportpsychologe Prof. Oliver Stoll vom Institut für Sportwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wies nach, dass selbst Entspannungstraining zu einer Erhöhung der Endorphinwerte im Blut führt. Die Glückshormone sind also nicht nachweisbar für die Sucht verantwortlich.
Raus aus dem Alltag
Stoll und Kollegen hatten eher den Verdacht, dass die Ablenkung von Alltagsproblemen bei der Entwicklung der Sucht eine Rolle spielt. Bei starker körperlicher Anstrengung konzentrieren sich die Sportler nur auf das Hier und Jetzt. "Das schaltet die Gedanken ab und fegt Alltagsprobleme für die Zeit des Trainings beiseite", erklärt der Münchener Sportwissenschaftler Gugutzer. Ein Zustand, den die Sportler immer wieder haben wollen. Nicht anders wirkt eine Droge. "Sie drohen, nur in der körperlichen Aktivität zu leben."
Experten vermuten aber noch andere Faktoren als die Realitätsflucht. Die körperliche Anstrengung könnte die Ängstlichkeit vermindern. Für diese Theorie spricht, dass Sportsüchtige eher unsichere Menschen sind. "Mit guten sportlichen Leistungen heben sie ihr Selbstbewusstsein und gleichen Frustrationen aus, die sie woanders erleben", so Gugutzer. Dazu kommt, dass nach der großen Schinderei ein Entspannungseffekt einsetzt. Auf das Seelenleben wirkt dieser wie eine Droge.
"Uns Forschern ist völlig unklar, welcher Effekt am meisten zur Sportsucht beiträgt", meint Prof. Tom Hildebrandt vom Institut für Ess- und Gewichtsstörungen an der Mount Sinai School of Medicine in New York. Alle Antworten könnten stimmen, aber konkrete Daten gibt es dazu nicht.
Fitte Körper, schlanke Taille
Fitness-Maniacs
Insgesamt ist die Sportsucht selten. Experten schätzen, dass nur ein Prozent der Freizeitsportler süchtig nach Bewegung ist. Sportarten, in denen man Fitness-Maniacs häufiger antrifft, sind:
Exzessive Ausdauersportarten wie Langstrecken-Laufen und -Fahrradfahren, Triathlon;
Fitness-Sport: In den amerikanischen Fitnessstudios hat sich für die Süchtigen der Begriff "permanent residents" eingebürgert, sie wohnen schon fast im Fitnesstempel;
Bodybuilding und Kraftsport;
Für bestimmte Menschen kann das Training in einen ständigen Kampf um den idealen Körper ausarten. Dazu gehören Bodybuilder und Personen mit Essstörungen. Experten sprechen sogar von Sport-Bulimie (Bulimia athletica) und Sport-Magersucht (Anorexia athletica). Sie erbrechen oder hungern nicht, sondern trainieren sich die lästigen Kalorien einfach ab. Gugutzer weiß: "Gerade junge Frauen übertragen ihre hohen Ansprüche an sich selbst auf das Training und wollen über ihre Leistung Anerkennung erzielen."
Während bei Frauen oft der Wunsch nach dem Idealgewicht und der Traumfigur die treibende Kraft ist, geht es Männern vor allem um die Muskelbepackung. Beiden gemeinsam ist, dass ihre Körperwahrnehmung gestört ist. Magersüchtige Frauen finden sich selbst bei gesundheitsgefährdendem Untergewicht noch zu dick. Männer kommen sich trotz dickem Bizeps schmächtig und untrainiert vor. Unter Bodybuildern ist dieses Phänomen als "Muskeldysmorphie" bekannt. Ohne Training, so befürchten sie, baue der Körper sofort Muskeln ab.
Schwund der Muckis...
Das exzessive Sporttreiben kann schwere Folgen für den Körper haben. Wer Ermüdungserscheinungen des Körpers ignoriert, nimmt frühzeitigen Verschleiß von Knochen, Bändern und Sehnen in Kauf. Frauen, die zusätzlich an Magersucht oder Bulimie leiden, verlieren lebenswichtiges Körperfett. Mögliche Folgen sind Hormonstörungen mit Ausbleiben der Regelblutung oder Osteoporose. Ab einem gewissen Kalorienverbrauch ohne ausreichende Nahrungszufuhr setzt nicht der gewünschte Effekt ein, sondern das Gegenteil: Der Körper baut keine Muskeln auf, sondern ab, und damit sinkt die körperliche Leistungsfähigkeit empfindlich.
... und der Freunde
Auch die sozialen Kontakte, die Konzentration am Arbeitsplatz und die Karriere leiden. Wer neben der Arbeit noch ein mehrstündiges Fitnessprogramm durchzieht, vereinsamt nach und nach. Während die Muskeln stärker werden, erlahmt der Kontakt zu Freunden und Verwandten. Sogar Liebesbeziehungen können zerbrechen, wenn der Partner das Verständnis für den Dauersport verliert, weil er sich zu wenig geliebt und beachtet fühlt.
Suchtgefahr - die Anzeichen
Man spricht von einer Sportsucht, wenn folgende Kriterien zutreffen:
Dosissteigerung: Die Leistungen müssen permanent erhöht werden, um die schöne Erschöpfung nach dem Training zu erleben.
Entzugserscheinungen: Ist wegen Krankheiten oder Unfällen kein Training möglich, fühlen sich die Betroffenen unausgeglichen und gereizt, sie leiden an innerer Unruhe und Nervosität. Lustlosigkeit, depressive Verstimmungen, Aggressionen und sogar Angstzustände sind möglich. Wird das Training wieder aufgenommen, verschwinden diese Symptome binnen weniger Tage.
Betroffene achten darauf, dass Entzugssymptome nicht erst auftreten, es entsteht ein Zwang zum Sport.
Die Kontrolle über das Ausmaß des Sportkonsums geht verloren. Sport wird zum wesentlichen Lebensinhalt. Planung und Ablauf des Alltags werden dem Sport untergeordnet. Freunde und Familie, aber auch berufliche Interessen werden zunehmend vernachlässigt.
Das Training wird trotz des Wissens um die schädlichen Folgen von Überlastung fortgesetzt. Verletzungen und Schmerzen werden ignoriert.
Kreislauf durchbrechen
Allerdings ist die Gefahr bei Sportsüchtigen groß, dass sie das Suchtverhalten nicht als solches wahrnehmen, sondern als leidenschaftlich betriebenes Hobby abtun.
Wer erste Zeichen einer Sportsucht bei sich feststellt, wird meist erkennen, dass er das Sportvolumen nicht aus eigener Kraft reduzieren kann. "Dann sollte er sich an einen Psychotherapeuten wenden", rät Gugutzer. Die Ursachen und die Ausprägung der Fitnesssucht seien individuell sehr verschieden, "man muss jedes Mal neu entscheiden, welche Therapie sich für den Betroffenen eignet."
Im Vordergrund stehen kognitive Therapieansätze. Durch Gespräche versuchen Therapeut und Betroffener, die Ursachen des Suchtverhaltens zu entschlüsseln und letztlich die Abhängigkeit zu lösen. Die Patienten können eine psychologische Beratungsstelle aufsuchen oder einen praktizierenden Sportpsychologen konsultieren. Bestehen bereits schwerwiegende körperliche Folgeerscheinungen, wird mitunter ein stationärer Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik notwendig.
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