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View Full Version : [FAQ] Benennen Sie “Roß und Reiter”!? "Beweislastumkehr"



Snitlev
22.07.11, 08:18
In der Entscheidung des LG Köln vom 11. Mai 2011 (AZ 28 O 763/10) findet man nachfolgende Zitate:



[...]Die tatsächliche Vermutung für die Täterschaft des Anschlussinhabers, die dessen sekundäre Darlegungslast begründet, setzt voraus, das feststeht, dass das geschützte Werk von einer IP-Adresse aus zugänglich gemacht wird, die zum fraglichen Zeitpunkt der Beklagten zugeordnet war. Hierzu hat die Klägerin die Ermittlungsprotokolle der Firma M sowie die Auskünfte der DTAG als Internet-Service-Provider vorgelegt.[...]
[...]Nimmt man die sekundäre Darlegungslast und die sie tragenden Erwägungen ernst, müssen daher nach Auffassung der Kammer zumindest "Roß und Reiter" genannt und mitgeteilt werden, wer die Tat begangen hat. Denn nur dann kann der Kläger, zu dessen Gunsten und wegen dessen Unkenntnis der tatsächlichen Umstände die Vermutung überhaupt besteht, den Prozess sachgerecht fortführen, da eine Störereigenschaft an unterschiedliche Voraussetzungen anknüpft, je nachdem ob die Tat durch Haushaltsangehörige (unterbliebene Belehrung/Kontrolle) oder durch außenstehende Dritte begangen sein soll (unterbliebene Sicherung des Anschlusses).[...]
Man liest zwar immer wieder, dass Störer grundsätzlich jeder ist, der in irgendeiner Weise adäquat kausal zu Verletzung des geschützten Rechts beiträgt. Um eine ausufernde Haftung zu vermeiden, ist allerdings die Verletzung von Prüfpflichten erforderlich, deren Umfang sich danach bestimmt, ob und inwieweit dem als Störer in Anspruch genommenen nach den Umständen eine Prüfung zuzumuten ist. Man bekommt aber seit der BGH Entscheidung "Sommer unseres Lebens" den Eindruck, das der Abmahner nur eine IP-Adresse als den Beweis an sich präsentieren muss, und damit schon nachgewiesen ist, dass der Rechtsverstoß – eindeutig – vom Anschlussinhaber selbst getätigt wurde, und wenn nicht, er den wahren Täter benennen muss, da ansonsten wieder in Kraft tritt, dass der Rechtsverstoß – eindeutig – vom Anschlussinhaber selbst getätigt wurde. So mag sie zwar in den Fällen, in denen lediglich eine Person Zugriff auf den ermittelten Internetanschluss hat, dienlich sein. Meines Erachtens ist die "Vermutung" jedoch schon dann nicht mehr praktikabel, wenn der Anschluss von mehreren Personen genutzt wird.

Ist so eine Tendenz der aktuellen Rechtsprechung, dieser fast völligen "Beweislastumkehr" vom Gesetzgeber so gewollt bzw. aus juristischer Sicht vertretbar?



Auskunft darüber erteilt:

Rechtsanwalt Dr. Sven J. Mühlberger, LL.M. intellectual property law


M|S Concept Rechtsanwälte
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71332 Waiblingen
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Tel: 07151/20955 – 28
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Internet:
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Vielen Dank für Ihre spannende Frage und die Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Tendenz der Rechtsprechung, bei Tauschbörsen-Abmahnungen von einer fast völligen Beweislastumkehr zulasten der Abmahnungs-Betroffenen auszugehen, beobachten meine Kollegen und ich bereits seit geraumer Zeit mit zunehmender Sorge.



Anders als im Strafrecht gilt im Zivilrecht nicht der Grundsatz "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten). Das Zivilrecht ist anders aufgebaut. Der Kläger, der etwas möchte, muss die Tatsachen, die erforderlich sind, um seinen Anspruch zu begründen, auch beweisen können. Gelingt ihm dies nicht, verliert der Kläger den Prozess.

Die Grundregel wird ausnahmsweise nach dem Gebot von Treu und Glauben durchbrochen, wenn der Kläger außerhalb des darzulegenden Geschehensablaufs steht und keine näheren Kenntnisse der darzulegenden Tatsachen besitzt. Man spricht insoweit von einer sekundären Darlegungslast. Sekundär deshalb, weil der primär Darlegungsbelastete (der Kläger) die Details nicht kennen kann und nun der Beklagte, der Einblick in den Geschehensablauf hat, einspringen muss.

Der Rechteinhaber, der eine Abmahnung verschickt, muss im Prozess für alle Tatsachen, die zur Anspruchsbegründung erforderlich sind, Beweis erbringen. Das kann er jedoch freilich nur selten (bspw. im Falle eines Anerkenntnisses).

Der Rechteinhaber hat nur Kenntnis von der IP-Adresse, über die angeblich eine Rechtsverletzung zu einem bestimmten Zeitpunkt begangen wurde und die Anschlussdaten des Anschlussinhabers, dem die IP-Adresse zum Zeitpunkt der Verletzung zugewiesen war. Der Rechteinhaber hat jedoch keine Ahnung davon, wer über den Internetanschluss was und warum bewerkstelligt hat. Er kennt weder die Zahl der Haushaltsmitglieder noch die Sicherung einer WLAN-Funkverbindung. Der Rechteinhaber weiß nicht, ob eine Haftung als Verletzer (=Schadensersatz + Kosten der Abmahnung) oder als Störer (= Kosten der Abmahnung) oder aber überhaupt keine Haftung in Betracht kommt.



Der Rechteinhaber befindet sich also in einem Dilemma. Hier soll ihm die sekundäre Darlegungslast zu Hilfe kommen. Der Rechteinhaber hat durch die Ermittlung des Verstoßes, der IP-Adresse und des Zeitpunkts sowie der Durchführung des Auskunftsverfahrens eine gewisse Beweiskette konstruiert. Daher soll es nun am abgemahnten Internetanschlussinhaber liegen, die benötigten Informationen zu liefern, oder, um es in den Worten des LG Köln zu sagen "Ross und Reiter" zu benennen.



Jetzt passiert jedoch etwas ganz Erstaunliches: Der Bundesgerichtshof hat in einem Halbsatz folgende Vermutungsregel aufgestellt:

"Wird ein geschütztes Werk der Öffentlichkeit von einer IP-Adresse aus zugänglich gemacht, die zum fraglichen Zeitpunkt einer bestimmten Person zugeteilt ist, so spricht (zwar) eine tatsächliche Vermutung dafür, dass diese Person für die Rechtsverletzung verantwortlich ist [...]."

Im Klartext: Es soll eine erste Vermutung dafür geben, dass der ermittelte Anschlussinhaber auch der Tauschbörsenteilnehmer ist und damit auf Schadensersatz und auf Erstattung der Abmahnkosten haftet. Jeder der das zum ersten Mal hört, kommt ins Stocken. Es ist klar, dass die Anwälte der Rechteinhaber diese Äußerung dankbar aufnehmen und wie ein neues Mantra herunterbeten. Wer würde das nicht.

Aber. Kann das denn richtig sein?


Der Bundesgerichtshof verkennt nach meiner Auffassung, dass es eine solche Vermutung, die eine sekundäre Darlegungslast, bzw. einen Beweis des ersten Anscheins dahingehend auslöst, dass der ermittelte Internetanschlussinhaber auch der Tauschbörsenteilnehmer ist, nicht geben kann.



Durch die Vermutung, bzw. den Anscheinsbeweis, kann bei typischen Geschehensabläufen von bestimmten Tatsachen auf das Vorliegen anderer Tatsachen oder Umstände geschlossen werden, wenn zwischen diesen aller Erfahrung nach eine derart enge Verbindung besteht, die es rechtfertigt, ihr Vorliegen ohne weiteren Nachweis zu unterstellen. Typisch ist in ständiger Rechtsprechung ein Geschehensablauf, der nach der Erfahrung des täglichen Lebens durch das Regelmäßige, Übliche, Gewöhnliche und Häufige seines Ablaufs sein Gepräge erhält (vgl. bspw. BGH NJW 1987, 1994). Es genügt nicht, dass von alternativen Ursachen lediglich eine wahrscheinlicher ist.

Es müsste also eine allgemeine Lebenserfahrung geben, wonach der ermittelte Internetanschlussinhaber in nahezu allen Fällen auch der Tauschbörsenteilnehmer ist. Meist wird ein Internetanschluss aber von mehreren Personen genutzt. Ein Haushalt verfügt regelmäßig über nur einen Internetanschluss – und zwar unabhängig von der Anzahl der im Haushalt lebenden Personen. Die drahtlose Internetverbindung soll es gerade ermöglichen, dass eine Vielzahl von Haushaltsmitgliedern auf das Internet zeitgleich zugreifen kann.

Dass dies den tatsächlichen Begebenheiten entspricht, zeigt bspw. ein Blick in "Statistische Ämter des Bundes und der Länder" (Heft 1, Bevölkerung- und Haushaltsentwicklung, 2007, S. 29). Danach sind lediglich 35 % aller deutschen Haushalte sog. Singlehaushalte. In 65 % aller Haushalte leben zwei oder mehr Personen. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, wonach der Anschlussinhaber auch der Verursacher ist, kann es folglich schon aus stochastischen Gründen nicht geben.

Einer solchen Vermutung bedarf es auch nicht. Dem Rechteinhaber, der nicht weiß, was sich beim Anschlussinhaber zu Hause tatsächlich zugetragen hat, kommt letztlich bereits die sekundäre Darlegungslast des Anschlussinhabers zugute (vgl. oben). Die sekundäre Darlegungslast ist Hilfe genug.



Das Landgericht Köln ist der Auffassung, der Anschlussinhaber müsse "Ross und Reiter" benennen und mitteilen, wer die Tat begangen hat. Was bedeutet das und wie muss man sich das vorstellen. Welche Nach- und Ausforschungspflichten hat der Anschlussinhaber? Reicht es aus beim Mittagessen in die Runde zu fragen "hat irgendjemand den Film "xyz" illegal heruntergeladen?"? Muss der Anschlussinhaber die PCs der Familienmitglieder durchsuchen (darf er das überhaupt?)? Muss er an Türen lauschen und Freunde der Kinder ins Kreuzverhör nehmen? Was muss er tun?



Was er tun muss, ist in der ständigen Rechtsprechung nach meiner Auffassung bereits geklärt:
Nach dem Gebot von Treu und Glauben ist die Substantiierungslast zwar zu modifizieren, wenn die darlegungs- und beweisbelastete Partei außerhalb des von ihr darzulegenden Geschehensablaufs steht und keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen besitzt. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Gegner diese Kenntnis hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind (vgl. BGH NJW 1999, 2887, 2888; BGH NJW 1989, 161, 162).



Hat der Anschlussinhaber keine Kenntnis, so schuldet er keine Ermittlungsmaßnahmen. Er muss nur Informationen preisgeben, die er auch tatsächlich hat und deren Preisgabe ihm zumutbar ist. Nur am Rande sei der Hinweis gestattet, dass es dem Anschlussinhaber meist unmöglich ist, herauszufinden, was eigentlich tatsächlich zum Zeitpunkt der angeblichen Verletzung passiert ist. Zwischen der Abmahnung und dem angeblichen Verstoß liegen meist mehrere Monate oder sogar Jahre. Hand aufs Herz, wer weiß denn noch genau, was er vor vier Monaten an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit gemacht hat. Wenn es nicht in einem Terminkalender steht und nicht zufällig ein Geburtstag oder Hochzeitstag ist, müssten die meisten wohl passen.

Selbst wenn Ermittlungshandlungen geschuldet wären, so hätte der Rechteinhaber durch den langen Zeitraum zwischen Abmahnung und Verletzung die Erschwernis der Ermittlung in gewissem Umfang zu vertreten. Letztlich wäre es doch befremdlich, wenn der Rechteinhaber auch nach zwei oder drei Jahren den Anschlussinhaber auffordern könnte "Ross und Reiter" zu benennen. Was sollte der Anschlussinhaber dann anderes sagen können, als "ich habe noch zwei Kinder" und "ich weiß nicht, wer es war".



Selbst wenn der Anschlussinhaber weiß, wer aus dem Haushalt es gewesen sein könnte, so erscheint es doch in hohem Maße als fraglich, ob es denn der Ehefrau zuzumuten ist, ihren Ehemann oder ihre Kinder "ans Messer" zu liefern. Schließlich ist der Familienfrieden ein hohes und vor allem über Art. 6 GG grundrechtlich geschütztes Gut. Zudem werden die abmahnenden Rechteinhaber nicht müde, in den Abmahnungen darauf hinzuweisen, dass durch illegales Filesharing auch Strafbarkeitstatbestände verwirklicht werden (können), vgl. bspw. § 106 UrhG. Dass diesbezügliche Angaben, die einen Familienangehörigen belasten können, keinesfalls zumutbar sind, ergibt sich bereits aus dem Grundgedanken des § 52 StPO.



Die Tendenz der aktuellen Rechtsprechung, vom Abgemahnten die Erbringung des Negativ-Beweises zu fordern, nämlich den Nachweis, dass er es nicht war, stützt sich gegenwärtig auf eine möglicherweise etwas unvorsichtig gewählte Formulierung des Bundesgerichtshofs. Nach meiner Auffassung ist diese damit aus juristischer Sicht zwar vertretbar, jedoch mit dem Willen des Gesetzgebers und dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nur schwer in Einklang zu bringen.

Es ist eine streitbare Tendenz, dass Internetanschlussinhaber, die mit einer Urheberrechtsverletzung auf Tauschbörsen in Verbindung gebracht werden, zunächst einmal unter Generalverdacht gestellt werden. Man vergisst dabei nur allzu schnell, dass viele der Abmahnungs-Betroffenen Verbraucher sind, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht und die plötzlich – verständlicherweise – die Welt nicht mehr verstehen.


Quelle: Abmahnwahn-Dreipage Aktuell (http://abmahnwahn-dreipage.de/aktuell.html)

Ich hoffe hiermit etwas mehr Licht ins Dunkel gebracht zu haben bzw. Aufklärungsbedarf im zum Thema "Beweislastumkehr" was ja mittlerweile immer öfter angewendet wird, jedoch rate ich jeden sich anwaltlich dabei beraten zu lassen...


mfg